“Auf eine wie verwirrende Art die Reiche ineinander geistern, lehrte uns der „Fressende Tropfen“, dem Vater Leverkühn mehr als einmal vor unseren Augen seine Mahlzeit verabreichte … Er hing abgesondert in einem Glase Wasser … Er nahm ein winziges Glasstäbchen … das er mit Schellack bestrichen hatte, zwischen die Spitzen einer Pinzette und führte es in die Nähe des Tropfens. Nur das war es, was jener tat, das übrige tat der Tropfen. Er warf an seiner Oberfläche eine kleine Erhöhung, etwas wie einen Empfängnishügel auf, durch den er das Stäbchen der Länge nach in sich aufnahm. Dabei zog er sich selbst in die Länge, nahm Birnengestalt an, … und begann, ich gebe jedermann mein Wort darauf, indem er allmählich sich wieder rundete, zunächst eine Ei-Form annahm, den Schellackaufstrich des Glasstäbchens abzuspeisen und in seinem Körperchen zu verteilen. Dies vollendet beförderte er, zur Kugelgestalt zurückgekehrt, das saubergeschleckte Darreichungsgerät querhin an seine Peripherie und wieder in das umgebende Wasser hinaus.“
Dieses Zitat von Thomas Mann aus “Doktor Faustus“ beschreibt den Effekt des folgenden Schauversuches sehr gut.
Material/Geräte:
Polyethylen-Becherchen, Waage, Schale, Trichter und Filter, Porzellanschale, Petrischale (8cm Durchmesser), 1 ml-Kunststoffspritze
Chemikalien:
Gallium

Indium

Zinn
Salzsäure 1N

Kupfer(II)-chlorid-Dihydrat

Versuchsdurchführung:
1. Herstellung der eutektischen Legierung:
In einem Kunststoffgefäß von ca. 20 ml Inhalt schmilzt man 17,15 g Gallium, indem man das Gefäß in eine Schale mit warmem Wasser stellt. In das geschmolzene Gallium bringt man 5,35 g Indium und 2,5 g Zinn ein und schwenkt ein paar Male leicht um. Nach wenigen Minuten ist eine homogene Legierung entstanden, die bei Raumtemperatur (nicht aber im Kühlschrank bei 4 °C) flüssig bleibt.
Die Legierung ist an der Oberfläche etwas trübe und benetzt Glas, das sie mit einem spiegelnden Film überzieht. Wenn man sie mit einem Tröpfchen Salzsäure verrührt wird sie klar, und die Oberflächenspannung erhöht sich erheblich, indem Glas jetzt nicht mehr benetzt wird. Die Legierung sieht jetzt aus wie Quecksilber und lässt sich z.B. wie dieses durch ein Filter, in dessen Spitze mit einer Nadel ein Loch gestochen wurde, filtrieren. Dabei wird allerdings die die Oberfläche bedeckende Chlorid-Haut zerstört und das ablaufende Metall benetzt Glas und Porzellan erneut. Man bewahrt die Legierung in einem kleinen Kunststoffgefäß mit Schraubverschluss auf. Das spezische Gewicht beträgt ungefähr 6,5 g/cm3.
2. Der fressende Tropfen:
Eine Petrischale von 8 cm Durchmesser wird möglichst genau horizontal aufgestellt und mit ca. 40 ml 1 N Salzsäure gefüllt. In diese gibt man einen Tropfen (ca. 0,3 ml) der flüssigen Legierung, am besten nahe des Randes der Schale. Nun streut man mit Hilfe eines gefalteten Papierblattes eine dünne (!) Spur Kupfer(II)-chloridkristalle von der anderen Seite der Schale auf den Metalltropfen hin aus (es empfiehlt sich, das oft leicht feuchte und schlecht rieselnde Salz zuvor kurze Zeit auf der Heizung zu trocknen). Sobald das Metall mit dem in Lösung gehenden Salz in Berührung kommt färbt es sich oberflächlich schwarz, und der Tropfen beginnt mit ruckartigen Bewegungen das Kupferchlorid entlang zu kriechen, wobei er dieses regelrecht “auffrisst“. Dabei bleiben die seitlichen Anteile des Metalltropfens zurück, der dadurch eine Halbmond- oder Sichelform annimmt und kleine Seitentröpfchen absondert, die dann kurze eigene Wege gehen. Am Ende der Kupferchloridspur angekommen macht er nicht selten kehrt und kriecht dieselbe wieder zurück, dabei Reste des noch in der Lösung befindlichen Salzes aufnehmend. Die Oberflächenfarbe des Metalls wechselt dabei wiederholt zwischen Silbrig und Schwarz. Wenn man (zu) viel Kupferchlorid eingesetzt hat, bleiben auf dem Weg des “fressenden Tropfens“ schwarze Schlieren zurück. Nach 1½ bis 2 Minuten ist der Versuch beendet und die zurückbleibende Metallkugel nimmt wieder eine glänzend-silbrige Farbe an.
Entsorgung:
Die gebrauchte Lösung wird mit Soda neutralisiert und zu den anorganischen (Schwermetall-)Abfällen gegeben. Das Metall kann für den gleichen Versuch mehrmals verwendet werden. Nach 4-6 Durchgängen lässt die Beweglichkeit nach und es wird ebenfalls zum Schwermetallabfall gegeben.
Erklärungen:
Das System Gallium – Indium – Zinn bildet ein Eutektikum, das laut Literatur aus 68,5 % Ga, 21,5 % In und 10 % Sn besteht und einen Schmelzpunkt von 19 °C besitzt, aber auch unterhalb desselben noch eine ganze Weile flüssig bleibt (Unterkühlung). Diese Legierung ist nicht identisch mit dem als Thermometerfüllung verwendeten Galinstan®, das 70,93 % Ga, 19,4 % In und 9,16 % Sn neben 0,51 % unbekanntem Rest enthalten soll.[2] Ich habe beide Verhältnisse ausprobiert und keinen für den Versuch wahrnehmbaren Unterschied festgestellt.
Alle Legierungsbestandteile sind relativ “unedle“ Metalle, wobei Gallium das niedrigste Normalpotential besitzt. (E0 für Ga/Ga3+ = -0,53 V, In/In3+ = -0,34 und Sn/Sn 2+ = 0,14 V). Kommen sie mit dem in Lösung gehenden Kupferchlorid in Berührung, so wird dieses zu Kupfer reduziert (E0 für Cu/Cu2+ = +0,34 V), das sich auf der Oberfläche des Metalls als schwarzer Belag abscheidet:
3 Cu2+ + 2 Ga ---> 2 Ga3+ + 3 Cu
Dort, wo der Metalltropfen mit Kupfer überzogen wird, wird dieses ebenfalls legiert und die Oberfläche wird wieder blank. Die Kupferlegierung hat jedoch eine niedrigere Oberflächenspannung als das ursprüngliche Eutektikum, so dass der Tropfen von der Oberflächenspannung auf seiner Kupfer-freien Rückseite in Richtung auf die mit Kupfer legierte Oberfläche gedrängt wird. Dadurch wird die Legierung gemischt und neues, (relativ) unlegiertes Eutektikum steht an der Front zur erneuten Legierungsbildung mit abgeschiedenem Kupfer zur Verfügung. Auf diese Weise bewegt sich das Metall, zielsicher dem Konzentrationsgradienten des Kupfersalzes folgend, vorwärts, bis das gesamte Kupferchlorid reduziert und legiert worden ist.
In einem Artikel, der im letzten Jahr im Jounal of chemical Education erschien,[3] beschreiben Wang et al., dass die Galliumlegierung auch in einer homogenen Flüssigkeit, enthaltend 1 M HCl und 0,3 M CuCl2, spontane Bewegungen zeigt, sich pulsierend ausdehnt und wieder kontrahiert. Diesen Effekt konnte ich nicht erzeugen. Schon das Einbringen der Legierung in die Lösung erlaubte nicht, einen Metallstrang aus der Spritze austreten zu lassen - das Metall zog sich sofort zu sphärischen Tropfen zusammen (im Video 2 gut zu sehen). Auch die an der zitierten Stelle angegebene Variante mit Eisen(III)-chlorid anstelle des Kupferchlorids schlug fehl. In der hier beschriebenen Form ist der Versuch aber auch ziemlich beeindruckend.
“Das eine nur sage ich: Gespenstereien wie diese sind ausschließlich Sache der Natur, und zwar besonders der von Menschen mutwillig versuchten Natur. Im würdigen Reiche der Humaniora ist man sicher vor solchem Spuk.“ [1]
Literatur:
[1] Mann, Thomas: Doktor Faustus – Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde; S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 43 Auflage November 2022 [ISBN 978-3-596-29428-2]: 27-29
[2] Handschuh-Wang S et al.: The subtle difference between Galinstan (R) and eutectic GaInSn; Materialia 26 (2022); doi: 10.1016/j.mtla.2022.101642.
[3] Wang B et al.: Repetitive Deformation of Ga-Based Liquid Metal in Acidified CuCl2 or FeCl3-Solution; Journal of Chemical Education 101 (2024): 4044−4050
Bilder:
Bestandteile der eutektischen Legierung, oben Zinn und Indium, unten Gallium (nicht in den richtigen Gewichtsverhältnissen!)
Schmelzen im Wasserbad
Das flüssige Eutektikum
Filtrieren
Die filtrierte Legierung benetzt die Porzellanschale
Video: Fressender Tropfen 1
Video: Fressender Tropfen 2