Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Spannende Experimente zum Vorführen.

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lemmi
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Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Im Jahre 1886 berichtete der Chemiker Hans Heinrich Landolt (1831-1910) über eine merkwürdige Beobachtung. Er brachte Lösung von Schwefeldioxid und Iodsäure zusammen und stellte fest, dass die erwartete Ausscheidung von Iod mit einer zeitlichen Verzögerung auftrat.[1] Die Reaktion avancierte bald unter dem Namen Landolt’sche Zeitreaktion zu einem ein häufig gezeigten Demonstrationsexperiment, an dem sich z.B. der Einfluss der Temperatur und der Konzentration der Reaktanden auf die Reaktionsgeschwindigkeit demonstrieren lassen. Aber auch als Schauversuche werden Zeitreaktionen - nach Landolt wurden noch weitere entdeckt - gerne verwendet. Spektakulär sind dabei vor allem die plötzlich auftretenden Farbumschläge


Material/Geräte:

Bechergläser, Erlenmeyerkolben und Messzylinder verschiedener Größe, 10-ml-Messpipette, Waage, Glasstab


Chemikalien:

Kaliumiodat Warnhinweis: o Warnhinweis: attn
Natriumdisulfit (Na2S2O5) Warnhinweis: c Warnhinweis: attn
Stärke
Quecksilber(II)-chlorid Warnhinweis: t Warnhinweis: c Warnhinweis: n Warnhinweis: xn
Silbernitratlösung 0,1 N Warnhinweis: c Warnhinweis: n
Natriumthiosulfat-5-Hydrat
Arsen(III)-oxid Warnhinweis: t Warnhinweis: c Warnhinweis: n Warnhinweis: xn
Natriumcarbonat Warnhinweis: attn
Essigsäure 100 % Warnhinweis: f Warnhinweis: c
Benzaldehyd Warnhinweis: attn
Zimtaldehyd Warnhinweis: attn
Aceton Warnhinweis: f Warnhinweis: attn
Kaliumhydroxid Warnhinweis: attn Warnhinweis: c
Arsen(III)-sulfid Warnhinweis: t Warnhinweis: n Warnhinweis: xn
Quecksilber(II)-sulfid Warnhinweis: attn
Dicinnamalaceton Warnhinweis: attn
Dibenzalaceton


Sicherheitshinweise:

Die Versuche mit Arsen(III)-oxid und Quecksilber(II)-chlorid bedürfen besonderer Vorsicht. Handschuhe sollen getragen werden. (Eine Variante die mit harmlosen, überall erhältlichen Ausgangsstoffen arbeitet und auch für häusliche Experimente geeignet ist, findet sich hier!)


Versuchsdurchführung:

Zu allen Versuchen wird eine 1 %ige Stärkelösung benötigt, die man sich folgendermaßen herstellt: 500 ml destilliertes Wasser werden in einem Kolben zum Sieden erhitzt. Man verreibt 5 g Stärke in einer kleinen Reibschale mit 10 ml Wasser und gibt die homogene Anreibung in das siedende Wasser, worin sie sich sofort klar löst. Die Lösung wird noch 2-3- Minuten gekocht und dann abkühlen gelassen.

Die folgenden Versuche lassen sich problemlos um einen Faktor 10 hochskalieren. Wenn man während der Demonstration konstant rührt, erfolgen die Umschläge praktisch instantan in der gesamten Flüssigkeit. Wird nicht gerührt, kann man oft beobachten, wie sich die Reaktion von einem Punkt ausgehend über 1-2 Sekunden über die Reaktionsmischung ausbreitet - was seinen besonderen Reiz haben kann.


1. Klassische Landolt’sche Zeitreaktion:[4]

Es werden folgende Lösungen angesetzt:

Lösung A: 10,7 g Kaliumiodat werden in 500 ml Wasser gelöst
Lösung B: 10,4 g Natriumdisulfit werden in 500 ml Wasser gelöst

Versuchsansatz: Man stellt mehrere 100-ml-Kolben auf und beschickt sie mit fallenden Mengen der Lösung B, die jeweils mit Wasser auf 17 ml aufgefüllt wird (siehe Tabelle). In kleinen Bechergläsern verdünnt man jeweils 15 ml Lösung A mit 15 ml Wasser und fügt 7,5 ml Stärkelösung zu. Zur Vorführung des Versuchs gießt man die Flüssigkeit aus den Bechergläsern mit Schwung in die dahinterstehenden Erlenmeyerkolben (mit Hilfe eines Assistenten kann das mit vier Ansätzen gelichzeitig erfolgen) und schwenkt die Kolben kurz kräftig um. Alternativ kann man sie – wenn vorhanden – auch auf Magnetrührern platzieren. Nacheinander färbt sich die wasserklare Flüssigkeit in den Kolben blauschwarz. Wenn nicht gerührt wird, kann man bei den höheren Verdünnungen beobachten, wie sich die schwarze Färbung von einem Punkt ausgehend binnen 2-3 Sekunden über den gesamten Kolbeninhalt ausbreitet, während der Farbumschlag in den konzentrierteren Ansätzen praktisch instantan erfolgt. Die Zeit hängt von der Menge der eingesetzten Lösung B ab (die Angaben in der Tabelle sind Richtwerte)
Tabelle Landolt.jpg
Nach dem Farbumschlag macht sich an der Innenwand der Kolben ein violetter Anflug von ausgegastem Iod bemerkbar.


2. Landolt’sche Zeitreaktion mit Zusatz von Schwermetallsalzen:

2.1 mit Quecksilber(II)-chlorid:[4]

Lösung A: 5,35 g Kaliumiodat werden in 400 ml Wasser gelöst und 100 ml Stärkelösung zugegeben
Lösung B: 530 mg Quecksilber(II)-chlorid werden in 400 ml Wasser gelöst
Lösung C: 5,2 g Natriumdisulfit werden in 500 ml Wasser gelöst

Versuchsansatz: man stellt zwei 250 ml-Bechergläser und davor zwei 100 ml Erlenmeyerkolben auf. In das erste Becherglas gibt man je 60 ml der Lösungen A und B, in das zweite je 50 ml. In den ersten Erlenmeyerkolben gibt man 60 ml, in den zweiten 100 ml der Lösung C.
Zur Vorführung des Versuchs wird der Inhalt der Kolben mit Schwung in das dahinterstehende Becherglas gegossen. Nach 5-7 Sekunden färbt sich die Flüssigkeit in beiden Bechergläsern schlagartig orange. Nach etwa 12-14 Sekunden wird sie im ersten Becherglas ebenso schlagartig blauschwarz, während sie sich im zweiten Becherglas entfärbt und wieder wasserklar wird.

2.2 mit Silbernitrat:mod. nach [5]

Lösung A: wie oben (2.1.)
Lösung B: Silbernitratlösung 0,1 N
Lösung C: wie oben (2.1.)

Versuchsansatz: im 250 ml-Becherglas legt man 50 ml Wasser und 10 ml Silbernitratlösung vor und stellt davor zwei 100-ml-Erlenmeyerkolben auf, die mit 50 ml der Lösungen A bzw. C beschickt sind.
Zur Vorführung des Versuchs gießt man gleichzeitig beide Lösungen aus den Kolben in das Becherglas. Die Mischung färbt sich sofort milchig weiß. Nach 7-8 Sekunden macht sich eine zunehmende Gelbfärbung bemerkbar und nach 14-15 Sekunden tritt eine blauschwarze Färbung ein, die sich – sofern der Ansatz nicht konstant gerührt wird – über ca 2 Sekunden in Schlieren in der Flüssigkeit ausbreitet.


3. “Gold-Uhr“ - Fällung von Arsen(III)-sulfid als Zeitreaktion:[4]

Lösung A: 500 mg Arsen(III)-oxid werden in einem kleinen Kolben mit 270 mg Natriumcarbonat (wasserfrei) und 10-15 ml Wasser erwärmt, bis eine klare Lösung entstanden ist. Sollte nach dem Abkühlen eine Trübung auftreten, so ist noch etwas Natriumcarbonat zuzusetzen und erneut zu erwärmen. Nach dem Abkühlen wird die Lösung in einem Messzylinder mit Wasser auf 67 ml aufgefüllt.
Lösung B: Essigsäure
Lösung C: man löst 13,5 g Natriumthiosulfat-5-Hydrat in 67,5 ml Wasser (gibt 75 ml Lösung)

Versuchsansatz: in ein 100 ml-Becherglas gibt man 33,5 ml der Lösung A und 4 ml Essigsäure. Daneben stellt man ein 50 ml-Becherglas, das mit 37,5 ml der Lösung B beschickt ist.
Zur Vorführung des Versuchs wird der Inhalt des kleinen Becherglases in das größere gegossen und ggf. kurz umgerührt. Nach etwa 25 Sekunden tritt eine goldgelbe Trübung ein, die sich rasch verstärkt.


4. Organische “Gold-Uhr“ – Bildung von Dicinnamylaceton als Zeitreaktion:[4]

In einem weiten Reagenzglas löst man 0,6 ml Zimtaldehyd in 3,7 ml Ethanol (unvergällt!) und gibt unter Schütteln 2,3 ml einer Lösung von 2,5 g Kaliumhydroxid in 23 ml Wasser zu. In die gelbliche Mischung gibt man dann 0,3 ml Aceton, mischt den Inhalt des RG durch Schwenken und startet die Uhr. Nach 25-30 Sekunden bildet sich in der goldgelben Flüssigkeit plötzlich ein hellgelber Niederschlag (vor dunklem Hintergrund betrachten!)

Die Mengen können problemlos um den Faktor 10 oder 100 erhöht werden. Außerdem kann man Benzaldehyd anstelle von Zimtaldehyd verwenden. Das Ergebnis ist aber nicht so spektakulär wie mit Zimtaldehyd: die Reaktionsmischung färbt sich immer dunkler Karminrot und nach 75-90 Sekunden fällt darin ein beigefarbener Niederschlag aus.


Entsorgung:

Die schwarzblauen Flüssigkeiten der klassischen Landolt-Reaktion werden bis zur Entfärbung mit Natriumthiosulfatlösung versetzt und dann ins Abwasser gegeben.

Die quecksilberhaltigen Ansätze werden vereinigt (wobei sie sich entfärben), mit etwas Natronlauge alkalisch gemacht und mit Natriumsulfidlösung versetzt. Nach mehreren Tagen wird von dem ausgefallenen Quecksilbersulfid abdekantiert und dieses zum Sondermüll gegeben, während der Überstand mit dem Abwasser entsorgt wird.

Der silberhaltige Ansatz wird durch Zugabe von noch etwas Natriumdisulfit entfärbt und das Silberjodid sich absetzen gelassen. Der Überstand wird dekantiert und ins Abwasser gegeben, das Silberiodid ausgewaschen, getrocknet und zum Recycling von Silber aufbewahrt.

Der arsenhaltige Ansatz wird 24 Stunden stehen gelassen. Danach hat sich das Arsen quantitativ als Arsen(III)-sulfid in schön orangegelben Flocken abgeschieden. Es wird abgesaugt, ausgewaschen und aufbewahrt oder zum Sondermüll gegeben. Das Filtrat kann mit dem Abwasser entsorgt werden.

Die organischen Versuchsansätze lässt man 1 Stunde stehen, wonach die Reaktionen fast quantitativ abgelaufen sind. Die Niederschläge werden abfiltriert und mit dem organischen Sondermüll entsorgt. Das Filtrat kann ins Abwasser gegeben werden.


Erklärungen:

Schon Landolt stellte in seiner 1886 erschienenen Arbeit mehrere Versuchsreihen vor, mit denen er den Mechanismus der von ihm entdeckten Zeitreaktion zu begründen versuchte. Er beschrieb drei Reaktionen, die in der Lösung nebeneinander ablaufen sollen (Hydrogensulfit entsteht beim Lösen von Disulfit in Wasser):

Reaktion 1: IO3- + 3 HSO3 - ---> I- + 3 HSO4-

Reaktion 2: 5 I- + IO3- + 6 H+ ---> 3 I2 + 3 H2O

Reaktion 3: I2 + HSO3- + H2O ---> HSO4 - + 2 HI

In einfachen, aber ausgeklügelten Experimenten mit stark verdünnten Lösungen der einzelnen Reaktanden wies Landolt nach, dass die Reaktionen 2 und 3 praktisch instantan verlaufen, während Reaktion 1 der langsamste Schritt ist. Er leitete daraus folgende Erklärung für den Zeitverzug der Iodbildung ab: das in 1 gebildete Iodid kann zwar mit im Überschuss vorhandenem Iodat nach 2 zu Iod reagieren. Solange noch Sulfit vorhanden ist wird dieses aber sofort nach 3 wieder zu Iodid reduziert und die Bildung von Iod kann daher erst einsetzen, wenn alles Sulfit verbraucht ist.[1] Diese Erklärung findet sich bis heute unverändert in allen Beschreibungen des Versuchs. Dennoch ist sie im Lichte der späteren elektrochemischen Erkenntnisse heute überholt und mutet etwas verstaubt an (so etwa wie die Rede vom "naszierenden Wasserstoff").

I- + 3 H2O <---> IO3 - + 6 H+ + 5 e- - E0 = + 1,08 V

2 I- <---> I2 + 2 e- - E0 = + 0,54 V

HSO3 - + H2O <---> HSO4 - + 2H+ + 2 e- - E0 = + 0,16 V

Das Hydrogensulfit ist einfach das stärkere Reduktionsmittel und wird zuerst umgesetzt, ehe die Reaktion zwischen Iodid und Iodat stattfinden kann. Würden außerdem die Reaktionen 2 und 3 tatsächlich nebeneinander ablaufen, wäre die Umsetzung sehr schnell beendet: es träte quasi eine Iodid-katalysierte Oxidation des Sulfits durch das Iodat ein und Reaktion 1 wäre überflüssig.

Neben ihren Qualitäten als Schauversuch wird die Landolt’sche Zeitreaktion gerne als Unterrichtsexperiment genutzt, um die Konzentrationsabhängigkeit der Rektionsgeschwindigkeit zu demonstrieren. In einem quantitativen Setup kann sogar die Ordnung der Reaktion bestimmt werden[2]: entgegen dem, was die Summengleichung 1 suggeriert, ist die Reaktion nicht vierter, sondern zweiter Ordnung bzw. erster Ordnung was sowohl die Iodat- als auch die Hydrogensulfit-Konzentration angeht. Auch dies war bereits Landolt bekannt![1]

Durch Zusätze geeigneter Schwermetallionen, die mit Iodid farbige Niederschläge bilden, kann die Reaktion optisch variiert werden. Besonders eindrucksvoll ist die Landolt-Reaktion in -Gegenwart von Quecksilber(II)-ionen. Sobald eine ausreichende Menge Iodid gebildet wurde, fällt in der Lösung schwerlösliches, orangefarbenes Quecksilber(II)-iodid aus:

Hg2+ + 2 I- ---> HgI2

Wenn genügend Iodat vorliegt, wird weiter Iodid gebildet, das irgendwann mit dem Iodat nach Gleichung 2 Iod bildet, so dass die Farbe, wenn alles Hg2+ umgesetzt ist, in Blauschwarz umschlägt. Diese Reaktion wurde 1953 von zwei Chemiestudenten an der Universität von Princeton entdeckt. Nach den Farben des traditionsreichen Hauptgebäudes der Universität, Nassau Hall, wurde sie “Old Nassau Clock Reaction“ genannt.[3] Ein etwas profanerer Name ist “Halloween Reaction“.
Erhöht man die Menge des zugesetzten Bisulfits, so wird das gesamte Iodat zu Iodid reduziert und dieses löst das Quecksilber(II)-iodid auf, indem der farblose Tetraiodomercurat(II)-Komplex gebildet wird:

HgI2 + 2 I- ---> [HgI4]2-

In diesem Fall entfärbt sich die orangefarbene Flüssigkeit wieder, und die Iodbildung und damit die Iod-Stärke-Reaktion bleibt aus.[4]

Die Toxizität der Quecksilbersalze veranlasste die Suche nach einem weniger problematischen Ersatz. Im Jahre 2004 wurde eine Variante der “Old Nassau Clock Reaction“ publiziert, bei der Silbernitrat eingesetzt wird.[5] Silberionen bilden mit Iodidionen blassgelbes Silberiodid:

Ag+ + I- ---> AgI

Der weitere Verlauf entspricht der klassischen Reaktion: sobald die Silberionen verbraucht sind, entsteht aus dem gebildeten Iodid und Iodat elementares Iod, dass die Schwarzfärbung des Ansatzes bedingt. Leider lässt sich die zweite Variante der “Old Nassau Reaction“ nicht durchführen, weil Silber keine komplexen Iodoargentate bildet. Die milchig-weiße Färbung zu Beginn ist auf ausfallendes Silberiodat zurückzuführen:

AgNO3 + KIO3 ---> AgIO3 + KNO3

Die “Golduhr“-Reaktion geht auf Arbeiten von Georg Vortmann (1854 - 1932) aus dem Jahre 1889 zurück.[6] Vortmann untersuchte das Verhalten des Natriumthiosulfats in wässriger Lösung und setzte es unter anderem mit verschiedenen Metallsalzen um, wobei die entsprechenden Metallsulfide gebildet werden. Für die Reaktion mit Arseniger Säure bzw. dem daraus entstehenden Arsenit,

As2O3 + Na2CO3 ---> 2 NaAsO2 + CO2

stellte er folgende Reaktionsgleichung auf:

2 AsO2- + 14 H+ + 9 S2O32- ---> As2S3 + 3 S4O62- + 3 SO2 + 7 H2O

welche den Vorgang im Großen und Ganzen (von quantitativ vernachlässigbaren Nebenreaktionen abgesehen) richtig wiedergibt.[6] Allerdings erwähnte Vortmann nicht die Induktionsperiode, die vergeht, bis die Abscheidung von Arsen(III)-sulfid beginnt! Als Zeitreaktion wurde die Umsetzung erst 1922 beschrieben.[7] Forbes et al. wiesen in ihren Studien nach, dass die Zeit bis zur Abscheidung des As2S3 vergeht, praktisch ausschließlich von der Thiosulfatkonzentration im Ansatz abhängt, und zwar in einer Kinetik nullter Ordnung – eine Halbierung der Konzentration verdoppelt die Zeit bis zum Farbumschlag u.s.w. Sie empfahlen daher dieses Experiment gegenüber der Landolt’schen Reaktion als Vorlesungsversuch zur Demonstration der Reaktionskinetik. In stark (mineral-)saurem Medium wird die Reaktion stark verzögert. Spätere Arbeiten legen nahe, dass aus dem Thiosulfat unter dem katalytischen Einfluss von Arsen zunächst schwefelreiche Polythionate (S5O62- und S6O62-) gebildet werden, die mit weiterem Thiosulfat unter Bildung von Sulfidionen reagieren. Erst dann tritt eine Abscheidung von Arsensulfid ein. Bis diese quantitativ verläuft vergehen mehrere Stunden.[8] Der genaue Reaktionsmechanismus ist m. W. nicht beschrieben.

Interessanterweise wurde 1975 ein “alternativer Reaktionsablauf“ publiziert,[9] der postuliert, dass der goldfarbene Niederschlag nicht aus Arsen(III)-sulfid, sondern aus Schwefel bestehe:

2 AsO2- + H2O + S2O32- ---> 2 AsO43- + 2 H+ + 2 S

Diese Gleichung ist aus mehreren Gründen falsch:[6]

- Der Niederschlag besteht aus Arsen(III)-sulfid und enthält höchstens Spuren von Schwefel beigemengt. Schon Vortmann beweis dies, indem er ihn in Ammoniakwasser vollständig in Lösung bringen konnte.
- Als Ausgangsstoff kann anstelle von Arsenit auch Arsenat eingesetzt werden, auch dabei entsteht Arsensulfid. Arsenat kann also kein Endprodukt sein (solange Natriumthiosulfat im Überschuss vorhanden ist, und das ist es in erheblichem Maße)
- Als Hauptreaktionsprodukt wurde in der Lösung Tetrathionat schon von Vortmann nachgewiesen.

Trotz dieser eklatanten Ungereimtheiten wurde die genannte, falsche Reaktionsgleichung offenbar ungeprüft in eine spätere Publikation übernommen.[10]

Die organische "Gold-Uhr" beruht auf der Bildung von Dicinnamalaceton, die über zwei Stufen verläuft. Dabei findet jedes Mal eine - basenkatalysierte - Aldolkondensation statt.
Reaktionsgleichung.jpg
Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist die erste der beiden Kondensationsreaktionen.[11] Die Bildung von Dibenzalaceton, mit Benzaldehyd als Edukt, verläuft analog.


Bilder:



Video: Landolt’sche Zeitreaktion mit (v.l.n.r.) 8 ml – 6 ml – 5 ml – 4,3 ml Natriumdisulfitlösung. Die Zeitverzögerung ist hier größer als oben angegeben wurde, weil zum Ansatz der Lösung Leitungswasser verwendet worden war. Dadurch fällt ein Teil des Iodats als Calciumiodat aus (Trübung) und die Iodatkonzentration verringert sich.



Video: der gleiche Reaktionsansatz mit halber Konzentration der Iodatlösung. Deutlich verzögerte Farbumschläge.

Landolt mit Hg 1.jpg
Landolt mit Hg 2.jpg
Landolt mit Hg 3.jpg
Die Stadien der “Old Nassau Clock Reaction“



Video: “Old Nassau Clock Reaction“. Links der Ansatz mit Überschuss an Natriumdisulfit, was Entfärbung zur Folge hat.

Landolt mit AgNO3 1.0.jpg
Landolt mit AgNO3 2.jpg
Landolt mit AgNO3 3.jpg
Landolt mit AgNO3 4.jpg
“Old Nassau Clock Reaction“ mit Silbernitrat anstelle von Quecksilberchlorid. Das dritte Bild zeigt die Schlierenbildung beim finalen Farbumschlag nach Blauschwarz.



Video: “Old Nassau Clock Reaction“ mit Silbernitrat

Golduhr 1.jpg
Golduhr 2.jpg
“Gold-Uhr“ – Zeitverzögerte Fällung von Arsen(III)-sulfid durch Natriumthiosulfat.



Video: “Gold-Uhr“

für Illumina.jpg
Abfiltriertes Arsen(III)-sulfid



Video: Organische “Gold-Uhr“ mit Zimtaldehyd.



Video: Zeitreaktion mit Benzaldehyd (10-fach größerer Ansatz als mit Zimtaldehyd)


Literatur:

[1] Landolt H: Ueber die Zeitdauer der Reaction zwischen Jodsäure und Schwefliger Säure; Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 19 (1886): 1317 – 1365
[2] Creary X u. Morris K M: A New Twist on the Iodine Clock Reaction: Determining the Order of a Rection; Journal of chemical Education 76 (1999): 530 – 531
[3] Alyea H N: The Old Nassau Reaction; Journal of chemical Education 54 (1977): 167 – 168
[4] Kreißl F R und Krätz O: Feuer und Flamme, Schall und Rauch – Schauexperimente und Chemiehistorisches; Verlag Wiley VCH Weinheim 2002, ISBN 3-527-30791-5
[5] Wilkinson L E: Old Nassau Demonstration with Wilkinson Modification; Journal of chemical Education 82 (2004): 1474
[6] Vortmann G: Ueber das Verhalten des Natriumthiosulfats zu Säuren und Metallsalzen; Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 22 (1889): 2307-2312
[7] Forbes G S et al: Induction Periods in Reactions between Thiosulfate and Arsenite or Arsenate: A Useful Clock Reaction; Journal of the American Chemical Society 44 (1922): 97 – 102
[8] Kurtenacker A u. Matejka K: Über höhere Polythionate; Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 229 (1936): 19 – 29
[9] Bailey et al: Producing a Chemistry Magic Show; Journal of chemical Education 52 (1975): 524 – 525
[10] Wagner G und Kratz M: Chemie in faszinierenden Experimenten; Aulis Verlag Deubner Köln 2005; ISBN 3-7614-2511-4
[11] King L C und Ostrum K: A new Clock Reaction Preparation of Dicinnamalacetone; Journal of chemical Education 41, Heft 2 (1964), A139
aliquis
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von aliquis »

Na, dann lag ich ja mit den Zeitreaktionen gar nicht so falsch... :wink:

Mit Silbernitrat kannte ich das noch gar nicht, muss unbedingt mal ausprobiert werden - auch wenn es leider nicht so schnell zum Iodid umschlägt wie bei Quecksilber.

Hast Du mal etwas von dem Arsensulfid probehalber in Ammoniakwasser gelöst (und zur Gegenprobe auch mit Toluol getestet)?

Am Rande: gut finde ich auch die Entsorgungshinweise, mit denen auf eine Minimierung der Flüssigabfallmengen bzw. auf ein Recycling hingearbeitet wird.
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Uranylacetat
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von Uranylacetat »

Super ausgeführt und dokumentiert :thumbsup: !
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lemmi
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

Das mit dem Arsensulfid wollte ich jetzt auch genau wissen. Ich habe eine kleine Probe mit ein paar Tropfen 10%igem Ammoniak übergossen:

IMG20240510102445.jpg
IMG20240510102548.jpg
Es löst sich rasch und ohne Rückstand. Mit der Lösung habe ich die Bettendorf-Probe gemacht:

IMG20240510103523.jpg
Kräftig positiv. Was da ausgefallen ist, ist reines As2S3! Eine Testung mit Schwefelkohlenstoff habe ich mir erspart.

Wagner u. Kratz haben offenbar bei den Autoren des "Chemistry Magic Show"-Artikels [9] von 1975 abgeschrieben (jedenfalls geben sie ihn als Quelle an) - und den Versuch vielleicht gar nicht selbst gemacht. Wie die Verfasser jenes Artikels zu ihrer Aussage kommen, es entstünde bei der Reaktion Schwefel, sagen sie leider nicht. Sie geben nicht ein einziges Literaturzitat an.
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aliquis
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von aliquis »

Damit ist dieser Widerspruch/Irrtum dank Deines Artikels nun auch aufgelöst. :thumbsup:
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aliquis
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von aliquis »

Die Variante mit Silber klappt gut und ist nett anzuschauen.

Etwas schwieriger ist die Entsorgung bzw. das Recycling: ein Teil des AgI bleibt kollodial gelöst - selbst nach Zugabe von etwas zusätzlichem Silbernitrat will es nicht vollständig zusammenballen und ausfallen. Liegt es am Iodid-Sulfit-Komplex?
Direkte Zugabe von Zink und Salzsäure zur Suspension führt wegen Anwesenheit von Sulfit zur Bildung von Schwefelwasserstoffgas sowie gelbem Schwefel und schwarzem Silbersulfid (statt elementarem Silber), die jetzt vom Wasserstoff an die Oberfläche getrieben werden.
Die Suspension bleibt weisslich-trüb, das Filtrat schimmert immer noch schwach bläulich-violett von kollodialem Silber.
Das Silbersulfid sollte sich (nach Filtration und Trocknen) zu Silber rösten lassen - falls die Menge nicht zu klein ist (aschefreies Filterpapier verwenden!). Das Zink fälle ich mit Soda als Carbonat, nach dem Trocknen des Filterkuchens kommt es zu den schwermetallhaltigen Feststoffabfällen. Das Filtrat ist nun endlich farblos und klar.
Die zu Iodid reduzierte Mischung mit anderen Silbersalz-Abfällen zu lagern/sammeln, ist wegen der Schwefelverbindungen, die den üblichen Recyclingprozess stören, keine so gute Idee. Wegen evtl. Stärkereste könnte sich ausserdem Schimmel bilden.
Fällen, Trocknen und mit den Schwermetallfeststoff- Abfällen zur Annahmestelle bringen, ist hier vermutlich die praktibelste Lösung.

Edit:
Wie schon vermutet war die hier anfallende Silbermenge zu gering für eine unmittelbare Rückgewinnung: beim Rösten blieb praktisch nichts übrig bzw. das wenige ward vom Winde verweht...
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mgritsch
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von mgritsch »

Schön, wieder ein super Klassiker der Schauversuche, liebevoll und gründlich wie immer aufbereitet :thumbsup:
lemmi hat geschrieben: Donnerstag 9. Mai 2024, 22:53 Dennoch mutet sie etwas verstaubt an (so etwa wie die Rede vom "naszierenden Wasserstoff"). Angesichts der Normalpotenziale der beteiligten Redoxreaktionen (im sauren Milieu) ist eine andere Erklärung möglich:

I- + 3 H2O <---> IO3 - + 6 H+ + 5 e- - E0 = + 1,08 V

2 I- <---> I2 + 2 e- - E0 = + 0,54 V

HSO3 - + H2O <---> HSO4 - + 2H+ + 2 e- - E0 = + 0,16 V

Das Hydrogensulfit ist einfach das stärkere Reduktionsmittel und wird zuerst umgesetzt, ehe die Reaktion zwischen Iodid und Iodat stattfindet.
Ich denke das hat nichts mit verstaubt oder falsch zu tun. Die Normalpotenziale sind die Voraussetzung dafür, dass die Reaktionen überhaupt bzw in der Reihenfolge ablaufen, die Reaktionsgeschwindigkeit (Kinetik) Voraussetzung dafür, dass es zu einer „Zeitreaktion“ kommt. Wäre die Kinetik nicht so, dann würde zwar die Abfolge genauso erfolgen, aber da alles instantan erfolgt wäre der Umschlag sofortig und nur die Netto-Reaktion von Relevanz.

2 und 3 sind instantan, aus elektrochemischen Gründen läuft aber 3 bevorzugt ab und baut Iodid auf. Wenn Sulfit verbraucht, dann „übernimmt“ Reaktion 2 und es entsteht Iod.

Wäre nett so eine Reaktion mit einer Iodid-sensitiven Elektrode zu verfolgen! Eventuell genügt dazu sogar schon ein einfacher Silberdraht in der Lösung (gegen eine Referenzelektrode)?
Diese Gleichung ist aus mehreren Gründen falsch:[6]

- Der Niederschlag besteht aus Arsen(III)-sulfid und enthält höchstens Spuren von Schwefel beigemengt. Schon Vortmann beweis dies, indem er ihn in Ammoniakwasser vollständig in Lösung bringen konnte.
- Als Ausgangsstoff kann anstelle von Arsenit auch Arsenat eingesetzt werden, auch dabei entsteht Arsensulfid. Arsenat kann also kein Endprodukt sein (solange Natriumthiosulfat im Überschuss vorhanden ist, und das ist es in erheblichem Maße)
- Als Hauptreaktionsprodukt wurde in der Lösung Tetrathionat schon von Vortmann nachgewiesen.
Hier hingegen könnte man die Normalpotenziale der Liste der Gründe noch hinzufügen :) wie soll Thiosulfat als Oxidationsmittel wirken und Arsenit zu Arsenat oxidieren? Widerspruch zur Elektrochemie.

Das einzige was eine Schwefelabscheidung verursachen könnte, wäre der Zerfall des Thiosulfats im sauren (was auch durchaus langsam passiert…)
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lemmi
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

Na endlich! Auf deine Kommentare zu den elektrochemischen Fragen habe ich die ganze Zeit gewartet :P
mgritsch hat geschrieben:Ich denke das hat nichts mit verstaubt oder falsch zu tun.
Doch, hat es. Landolts Verdienst ist es, nachgewiesen zu haben dass die Reaktion Sulfit-Iodat langsam und dadurch geschwindigkeitsbestimmend ist. Seine weitere Erklärung ist antiquiert weil...
Die Normalpotenziale sind die Voraussetzung dafür, dass die Reaktionen überhaupt bzw in der Reihenfolge ablaufen
... diese Tatsache ihm noch nicht bekannt war. Er argumentierte so: sobald sich das erste bisschen Iodid gebildet hat, muss aus diesem mit überschüssigem Iodat Iod entstehen. Das passiert laut ihm auch, aber das Iod wird sofort wieder durch ebenfalls noch vorhandenes Sulfit reduziert. Er sagte eben nicht
Wenn Sulfit verbraucht, dann „übernimmt“ Reaktion 2 und es entsteht Iod.

Ausserdem ist sie m.E. sogar falsch und ich frage mich, ob das niemand zu der damaligen Zeit aufgefallen ist!

Hätte er recht, dann wäre zur Reduktion der Iodats die langsame direkte Reaktion mit Sulfit gar nicht nötig! Iodat würde mit Iodid zu Iod reagieren, dieses durch Sulfit zu Iodid reduziert, das Iodid derneut zu Iod oxidiert, das Iod wieder zu Iodid reduziert - all dies in sehr schnellen Reaktionen. Es müsste eigentlich eine sofortige Iodid-katalysierte Umsetzung erfolgen.

Hier hingegen könnte man die Normalpotenziale der Liste der Gründe noch hinzufügen :) wie soll Thiosulfat als Oxidationsmittel wirken und Arsenit zu Arsenat oxidieren? Widerspruch zur Elektrochemie.
Ja, genau das war auch meine Überlegung! Aber, da es ja unerwartete Vorgänge geben soll, doch lieber die Redoxpotentiale nachschlagen (Quelle):

2S + 9H2O → S2O32- + 6H3O+ + 4e- +0.6 V

HAsO2 + 4H2O → H3AsO4 + 2H3O+ + 2e- +0.56 V

Unglaublich, aber zumindest bei stark saurem pH wahr: Der Schwefel ist "edler" als das Arsenit! Nun hat die Reaktionsmischung wohl eher einen pH um 3, zu dem ich keine entsprechenden Normalpotentiale gefunden habe (kannst du die vielleicht auftreiben oder berechnen?). Es könnte aber sein, dass die Autoren der "Chemistry Magic Show" auf Basis dieser elektrochemischen Daten zu ihrer Reaktionsgleichung kamen, die den experimentellen Tatsachen widerspricht (leider lässt sich das nicht überprüfen)...

Deswegen habe ich mich in meiner Argumentation nur auf die Befunde gestützt und nicht auf die Elektrochemie. :wink:
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lemmi
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

So, jetzt habe ich den Artikel noch mit der Aldolkonsensation-Zeitreaktion ergänzt. (Ich entschuldige mich für das unscharfe Video mit Zimtaldehyd - leider hat meine Kamera den Geist aufegegben, und wie man das Hand dazu bringt, dahin zu fokussieren wo es soll habe ich noch nicht raus...)
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von aliquis »

Die Farbänderung bei der organischen Reaktion kannte ich schon von der Dibenzalaceton-Synthese. In der Tat erfolgte die gelbe Niederschlagsbildung etwas zeitversetzt, aber keineswegs schlagartig, sondern eher allmählich. Auch die zwischenzeitliche Rotfärbung blieb bei mir aus (in den Syntheseanleitungen war davon ebenfalls keine Rede).
Und ja: ich habe natürlich MEK-freien Ethanol verwendet... :wink:

Für die Komproportionierung von Iodid mit Iodat zu Iod bedarf es Protonen (schwefelsaure Lösung).
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von Uranylacetat »

Fein! Die Kondensation mit dem Zimtaldehyd finde auch ich deutlich „prägnanter“. :wink:
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mgritsch
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Sonntag 19. Mai 2024, 00:39Er argumentierte so: sobald sich das erste bisschen Iodid gebildet hat, muss aus diesem mit überschüssigem Iodat Iod entstehen. Das passiert laut ihm auch, aber das Iod wird sofort wieder durch ebenfalls noch vorhandenes Sulfit reduziert. Er sagte eben nicht
Wenn Sulfit verbraucht, dann „übernimmt“ Reaktion 2 und es entsteht Iod.
okay, ich verstehe den Punkt. Im Prinzip ist es überhaupt nicht nötig anzunehmen, dass die Reaktion Iodat/Iodid->Iod->Iodid abläuft. Solange Sulfit da ist, wird zuerst das stärkste Oxidationsmittel = Iodat mit dem stärksten Reduktionsmittel = Iodid reagieren bevor das nächst-stärkere Reduktionsmittel Iodid oxidiert wird.
Inwiefern die Kinetik doch eine Rolle spielt und deswegen die Umsetzung der thermodynamisch bevorzugten Reaktion (Iodat/Sulfit) zugunsten der kinetisch bevorzugten (Iodat/Iodid) temporär in den Hintergrund tritt, kann man aber trotzdem überlegen. Eine gehemmte Reaktion kann durchaus dynamisch einen nicht-Gleichgewichts-Zustand hervorbringen. Gibt's dazu nicht abseits der Versuchsanleitungen und Erklärungen professionelle Literatur die das mal beleuchtet und beantwortet hat?
Hätte er recht, dann wäre zur Reduktion der Iodats die langsame direkte Reaktion mit Sulfit gar nicht nötig! Iodat würde mit Iodid zu Iod reagieren, dieses durch Sulfit zu Iodid reduziert, das Iodid erneut zu Iod oxidiert, das Iod wieder zu Iodid reduziert - all dies in sehr schnellen Reaktionen. Es müsste eigentlich eine sofortige Iodid-katalysierte Umsetzung erfolgen.
Das ist allerdings eine schlagende Überlegung. Wenn sowohl Iodat/Iodid als auch Iod/Sulfit schnell sind, wäre das definitiv so.
Aber, da es ja unerwartete Vorgänge geben soll, doch lieber die Redoxpotentiale nachschlagen (Quelle):
2S + 9H2O → S2O32- + 6H3O+ + 4e- +0.6 V
HAsO2 + 4H2O → H3AsO4 + 2H3O+ + 2e- +0.56 V
Unglaublich, aber zumindest bei stark saurem pH wahr: Der Schwefel ist "edler" als das Arsenit! Nun hat die Reaktionsmischung wohl eher einen pH um 3


Ah, wunderbar, endlich Zeit für eine kleine Lehrstunde in Elektrochemie :D :thumbsup: :angel:

Also, "Redoxpotenziale" in Tabellen sind immer Standardpotenziale (Durch das 0 Symbol gekennzeichnet als E0) = bei Standardbedingungen = 25° C / alle Aktivitäten (~Konzentrationen) = 1 (mol/l) bzw. (Partial-)Druck von Gasen = 1 bar, für Feststoffe Konvention = 1. Jede Abweichung von den Standardbedingungen bedingt eine Änderung des Potenzials, dann ist es nicht mehr "Standard" :)

Wie man die Änderung berechnen kann, dafür gibt es die berühmte Nernst-Gleichung:
2024-05-21 12_41_16-Nernst-Gleichung – Wikipedia - Brave.png
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wenn wir mal nur den spannenden Fall der abweichenden Konzentrationen (auch pH ist eine andere Konzentration an H+) betrachten, bleiben RT/F als Konstanten übrig. Den natürlichen Logarithmus kann man mit dem Faktor log(e) in den praktischeren dekadischen Log umrechnen und auch gleich in die Konstanten mit einbauen, damit ergibt sich die bei 25° geltende praktische Form:
2024-05-21 13_18_21-Nernst-Gleichung – Wikipedia - Brave.png
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für eine Gleichung wie:
2 S + 9 H2O → S2O32- + 6 H3O+ + 4 e- E°= +0.6 V

ist z = 4 (Anzahl der Elektronen die dabei übergehen)
und ist aOx/aRed der "Reaktionsquotient" wie bei jedem Gleichgewicht wobei die oxidierte Seite im Zähler und die reduzierte im Nenner landet, somit:
2024-05-21 13_40_52-Dokument1 - Word.png
2024-05-21 13_40_52-Dokument1 - Word.png (6.81 KiB) 1228 mal betrachtet
[S] ist als Feststoff per Definition 1, und [H2O] ist in einer wässr. Lösung konstant (wurde implizit im Zahlenwert von E0 schon berücksichtigt), geht somit auch nicht weiter als Variable ein, damit reduziert sich der Ausdruck auf:
2024-05-21 13_44_04-Dokument1 - Word.png
2024-05-21 13_44_04-Dokument1 - Word.png (4.91 KiB) 1228 mal betrachtet
der (negative) Log von H3O+ ist der pH, ein Exponent wird beim Logarithmieren zum Faktor also kann man schreiben:
2024-05-21 13_46_19-Dokument1 - Word.png
2024-05-21 13_46_19-Dokument1 - Word.png (4.65 KiB) 1228 mal betrachtet
Jetzt müssen wir nur noch richtig mit dem Vorfaktor bzw. der Elektronenzahl multiplizieren die wir vorher mal vorübergehend beiseite gelegt haben und erhalten:
2024-05-21 15_30_14-Dokument1 - Word.png
2024-05-21 15_30_14-Dokument1 - Word.png (9.54 KiB) 1220 mal betrachtet

Mit eingesetzten Zahlen E0 = 0,6V [S2O32-] = 1 und pH = 3 ergibt das 0,335 V

Analog durchexerziert für Arsenit/Arsenat ergibt sich die Formel:
2024-05-21 16_16_01-Dokument1 - Word.png
2024-05-21 16_16_01-Dokument1 - Word.png (10.89 KiB) 1218 mal betrachtet

Mit eingesetzten Zahlen E0 = 0,56V [H3AsO4] bzw [HAsO2] = 1 und pH = 3 ergibt das 0,383 V

Somit ist bei pH = 3 das Potenzial von Thiosulfat/Schwefel niedriger als von Arsenat/Arsenit, tendenziell wird es somit zum Reduktionsmittel das nicht oxidieren kann.

"Tendenziell" deswegen, weil natürlich gemäß erster Formel eine entsprechend hohe Thiosulfat-Konzentration das Potenzial wieder in die andere Richtung nach oben schieben kann :) Aber das bräuchte sehr viel Thiosulfat (bzw sehr viel Arsenit Überschuss ggü Arsenat auf der anderen Seite) bis das überwiegt. Eine 40-fache Thiosulfat-Konzentration würde das Potenzial nur um 0,059 V positiver machen, das wäre mal knapp genug um ca die Hälfte des Arsenits zu Arsenat zu oxidieren (Nota bene: bei Arsenit/Arsenat kommt es nur auf das Verhältnis, nicht aber die absolute Konzentration an).

Des weiteren findet sich in deiner Quelle noch eine andere Reaktion die man dann berücksichtigen müsste:
S + 6 H2O → SO2 + 4 H3O+ + 4 e- E0 = 0.5 V
Nach analogen Überlegungen gilt hier bei pH 3 --> E = 0,323 V. Allfälliger entstandener Schwefel selbst wäre also wiederum ein Reduktionsmittel gegenüber Arsenat. Noch ein Grund warum das so nicht klappen kann, und "in Line" mit dem Befund dass auch Arsenat einen As2S3 Niederschlag gibt.

Q.E.D: es kann in dem Versuch nicht Thiosulfat Arsenit zu Arsenat oxidieren :)
Allenfalls könnte Thiosulfat im Sauren generell zu Sulfit und Schwefel zerfallen (reicht pH 3 dafür?)

Goodie: mit den beiden Formeln lässt sich eine hübsche Grafik mit der pH-Abhängigkeit der beiden Potenziale basteln:
2024-05-21 17_33_05-Mappe1 - Excel.png
2024-05-21 17_33_05-Mappe1 - Excel.png (32.68 KiB) 1206 mal betrachtet
Nota bene könnte man das ganze auch benutzen um Gleichgewichtslagen zu ermitteln.
Aus der Potenzialdifferenz lässt sich die freie Reaktionsenthalpie errechnen https://de.wikipedia.org/wiki/Gibbs-Ene ... ktrochemie
Aus der Freien Reaktionsenthalpie wiederum die Gleichwichtskonstante... https://www.chemie.de/lexikon/Gleichgew ... tante.html
So ist in der Physikalischen Chemie alles ein geschlossenes Gebilde :)
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Donnerstag 9. Mai 2024, 22:53 Die organische "Gold-Uhr" beruht auf der Bildung von Dicinnamalaceton, die über zwei Stufen verläuft. Dabei findet jedesmal eine - basenkatalysierte - Aldolkondensation statt.
Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist die erste der beiden Kondensationsreaktionen.[11]
hm, inwiefern erklärt das eine "Uhr"? Mag ja sein dass er erste Schritt langsam ist was insgesamt eine langsame Reaktion verursacht, das wäre in der Organik nichts ungewöhnliches. Was erklärt dann das plötzliche Ausfallen? Überschreiten der Löslichkeit? Dann wäre zB die Umschlags-Zeit dieser Uhr sehr empfindlich auf den Ethanol-Gehalt. Hast du mal geprüft welche Parameter da was auslösen?
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

mgritsch hat geschrieben:So ist in der Physikalischen Chemie alles ein geschlossenes Gebilde :)
Sehr schön! Ich wusste, dass du mir da weiterhelfen kannst. Danke für die Auffrischung von Nernst! Ich übernehme das noch in den Artikel. Darf ich deine Grafik zur pH-Abhängigkeit übernehmen?

Das da kein Schwefel ausfällt hat mich auch gewundert. Aber das gebildete As2S3 scheint tatsächlich ziemlich rein zu sein. Ich nehme an, dass das Thiosulfat katalytisch in Tetrathionat etc. übergeführt wird. In dem einen paper wird die präparative Darstellung höherer Polythtionate mit Hilfe katalytischen Mengen Arsenit beschrieben.

Warum die Zimtaldehyd-Aceton-Kondensation eine Zeitreaktion ist, dazu findet sich in der einzigen mir bekannten Quelle keine Angabe, außer dass eben die erste Reaktion langsamer ist als der zweite Teilschritt. Eine nähere Begründung bleiben die Autoren schuldig. Auf weiterführende Literatur verweisen sie auch nicht

Ich hatte das so verstanden, dass es eine gewisse Zeit braucht bis die Löslichkeit des Produkts überschritten ist, und es dann ausfällt. In 96% Ethanol löst es sich nämlich sehr gut (beim Auswaschen des RG :) ). Vielleicht entsteht Passagier eine übersättigte Lösung? Aber ich finde das jetzt nicht so spannend dass ich meinen kleinen Vorrat an Cinnamylaldehyd systematischen Studien opfern möchte ... 8)

A propos: wie erklärst du das plötzliche Ausfallen von HgI2 bei der Old Nassau Clock Reaction? Dort wird doch kontinuierlich Iodid gebildet. Warum trübt sich die Mischung nicht langsam immer mehr ein, sondern plötzlich? Das muss auch was mit Löslichkeit zu tun haben. Dito erfolgt die Wiederauflösung zu [HgI4]2- sehr plötzlich.
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Re: Die Landolt‘sche und andere Zeitreaktionen

Beitrag von lemmi »

Da wir gerade in der Lehreinheit "physikalische Chemie" sind ... Auf der von dir verlinkten Seite steht:

Screenshot_2024-05-21-20-48-11-69_40deb401b9ffe8e1df2f1cc5ba480b12.jpg
Das ist doch ein Schreibfehler, oder? Muss es nicht heißen "wenn K >1"bzw. "wenn K< 1 ..." ? :conf:
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